Predigt von Brunhilde Raiser am 20. Mai 2006

Was ihr getan habt einer- einem von diesen meinen geringsten Schwestern und Brüder, das habt ihr mir getan. Mt. 25, 40

Liebe Frauenhilfe-Festgemeinde, 
was liegt näher, als das Gründungswort der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen der Predigt als einen Text zu Grunde zu legen. Ein besonderes Geschenk ist es, wenn dann die Tageslosung, über die Präses Buß eben gepredigt hat, in solch enger Verbindung zu diesem Gründungswort steht.

Ich habe mit diesem Bibeltext eine Geschichte: Gut entsinne ich mich, dass ich als Mädchen in der Kirchenbank saß, diesen Text hörte und mich empörte. Wer sollten denn diese Geringsten sein? Ich wollte nicht, dass es Geringste gibt. Niemand sollte so bewertet werden. Und ich erinnere mich an Gespräche darüber mit meinem Vater, der mich dann auf Menschen aufmerksam gemacht hat, die am Rande unserer Gesellschaft lebten. Er zeigte mir mit Worten und in seinem Handeln, dass Hungernde zu essen brauchten, dass Kranke evtl. kostenlos Medizin brauchten und besucht werden mussten.

Im Laufe der Jahre habe ich die Tiefe und Herausforderung dieses Bibelwortes verstehen gelernt. Nicht dass ich mich damit abgefunden hätte, dass es Geringe- ja sogar Geringste gibt neben den Bedeutenderen, Bedeutenden, neben Wichtigen und Wichtigeren, neben Erfolgreichen und Einflussreichen, neben Anerkannten und in ihrer Existenz zumindest Abgesicherten oder Wohlhabenden. Und das will das Wort aus dem Matthäus-Evangelium ja auch gerade nicht bewirken.

Aber ich habe gelernt, dass es Wirklichkeit ist, dass sich Menschen und bis heute sehr oft v.a. Frauen als gering empfinden. Ich habe gelernt, dass es Wirklichkeit ist, dass Menschen gering- klein gemacht werden- unterdrückt- und ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt werden. Und auch das erfahren Frauen in erhöhtem Maße- bis heute- hier und weltweit. Ich habe gelernt, dass es Menschen gibt, denen nur wenig Wert zugesprochen wird- die in Folge dessen auch oft Gewalt erfahren. Gerade diese Sichtweise ,diese Geringbewertung in den Augen mancher - oder auch vieler- führt dazu, dass Obdachlose Gewalt erleben, ausländische Menschen angegriffen werden und Frauen und Kinder seelisch und körperlich Gewalt angetan wird.

In diese Wirklichkeit hinein spricht das Gründungswort der westfälischen Frauenhilfe. Davon ist ihr Denken bestimmt und ihr Handeln geleitet. Erstaunlich daran ist, dass bereist vor 100 Jahren die Verantwortlichen und Mitglieder dieses Wort trotz seiner männlichen Sprache - "einem von diesen meiner geringsten Brüder“ - v.a. auf Frauen bezogen haben. Damit haben sie vielleicht unbewusst aber aus der historischen Distanz deutlich erkennbar eine klare politische Aussage gemacht: Die Geringsten fanden sie vor allem unter den Frauen. Aber sie haben damit auch eine klare theologische Aussage gemacht: Im Mt. Evangelium macht Jesus deutlich, dass Gott sich identifiziert mit den Geringsten- dass Gott sie als "Brüder“ - und damit nach damaligem Verständnis als gleichberechtigt anerkennt. Wenn Menschen sich diesen Geringsten zuwenden, dann wenden sie sich in ihnen Gott zu, weil Gott in ihnen aufscheint - mit ihnen lebt.
Wo Evangelische Frauenhilfe Frauen als diese Geringsten erkannte, sprach sie ihnen damit bereits Würde und ein Stück Gleichberechtigung in jedem Fall aber Gleichwertigkeit vor Gott zu.

Das Gründungswort der Frauenhilfe ist kein Aufruf zu guten Werken; und es ist auch keineswegs nur an eine bestimmt Gruppe von Menschen gerichtet. „Alle Völker“, so heißt es im Kontext „werden vor Gott versammelt werden“. Und Gott wird ihre Nähe zu sich beurteilen auf Grund ihres Verhaltens gegenüber den Menschen und v.a gegenüber den sog. Geringsten. Alle, so heißt es werden staunen, dass ihr Handeln gegenüber den Menschen etwas mit ihrer Beziehung zu Gott, mit ihrer Zuwendung zu Gott zu tun hatte. Für mich macht das deutlich: es geht nicht um das Ableisten guter Werke, unser Handeln soll nicht darauf ausgerichtet sein, ob wir es Gott recht machen- sondern darauf, dass Gottes Recht Wirklichkeit wird, weil wir es den Menschen zukommen lassen.

Es fällt auf, dass die Handlungen, die das Matthäus-Evangelium als Taten gegenüber den Geringsten aufzeigt, bis in unsere Tage vor allem von Frauen geleistet werden. Krankenpflege, Gefangenenbesuchsdienste, Obdachlosenbetreuung, Suppenküchen oder Tafeln, Kleiderkammern, MigrantInnenbegleitung und Fachberatung, das sind die heutigen Tätigkeitsfelder, die vorrangig von Frauen verantwortet werden, die charakteristisch sind für Frauenhilfe.

Bis heute ist diese Einzelfallhilfe unverzichtbar und für viele lebensnotwendig. Im Laufe der Zeit hat die Frauenhilfe allerdings erkannt, dass sie zugleich daran arbeiten muss, dass sich die Strukturen, in denen Menschen "gering“ gemacht werden, ändern. Damit greift sie Jesu Aussage auf, dass er gekommen sei, die Gefangenen zu befreien und damit alle Gerechtigkeit erführen. Das Ziel ist, die vorhandenen Strukturen auf die Strukturen des Reiches Gottes hin zu verändern, die Leben, Leben in Fülle für alle vorsehen. Geringe und Geringste gäbe es dann nicht mehr.

In aller Vorläufigkeit soll unser Handeln gegenüber den "Geringsten“ ein Schritt auf diesem Weg sein. 
Zuwendung, die nicht von oben herab geleistet wird, verändert zumindest die Wertigkeit in den Augen der anderen. Diese angeblich Geringsten sind es damit wert, besucht, gespeist, begleitet zu werden. Nicht selten erfordert solche Zuwendung ja auch Mut von den Handelnden und bedeutet eine politische Aussage: Wenn ich Migrantinnen berate und begleite- dann sage ich ja zu ihrem Hier sein. Wenn ich Gefangene besuche, dann reihe ich mich damit ein in Resozialisierungsmaßnahmen. Damit sind Zuwendung und Hilfe immer mit der Zielsetzung der Veränderung verbunden.

Frauenhilfe - wir alle -müssen immer neu wahrnehmen, wer unter die Geringsten eingereiht wird oder sich ihnen zurechnet. Ihnen muss auch künftig unser Handeln gelten. 
Gesegnet von Gott ---- Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen. 
AMEN

Brunhilde Raiser, Vorsitzende der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland e.V.

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