90 Jahre Frauenheim Wengern
Interview mit Edelgard Spiegelberg
(März 2007)

Seit 90 Jahren besteht das Frauenheim Wengern. Seit wann ist es eine Behinderteneinrichtung und wie kam es dazu?

Das Frauenheim Wengern hat immer schon Frauen mit Behinderungen Hilfen angeboten, nur unter unterschiedlichen Aspekten. Wachsende Nachfrage und der Rückzug aus der Arbeit im Bereich der Fürsorgeerziehung führten dazu, dass wir seit Anfang der 80er Jahre eine Einrichtung der Behindertenhilfe sind, heute mit ambulanten und stationären Wohnangeboten und einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).

Frauenheim Wengern - das klingt nach stationär und nur für Frauen. Was verbirgt sich hinter diesem Namen?

Unter dem Namen „Frauenheim Wengern“ fassen wir alle ambulanten und stationären Wohn- und Arbeitsangebote zusammen, die die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. im Ennepe-Ruhr-Kreis Menschen, das heißt: Frauen und Männern mit psychischen und geistigen Behinderungen, anbietet. „Frauenheim Wengern“ - das ist ein Markenzeichen für qualitativ gute, erfolgreiche und moderne Hilfeangebote für Menschen mit Behinderungen. Es steht symbolisch für das Netzwerk: Arbeiten in der WfbM, tagesstrukturierende Angebote, ambulant betreutes Wohnen und Familienpflege (NAOMI), zentrale und dezentrale stationäre Wohnangebote.

Das Frauenheim Wengern ist in Trägerschaft der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. … Wie würden Sie das besondere Profil Ihrer Einrichtung beschreiben?

Das besondere Frauenhilfeprofil spiegelt sich in der besonderen Unterstützung der Frauen bei „Frauenproblematiken“ wider: keine Sterilisation als Mittel der Familienplanung, besondere Unterstützung der Frauen in Partnerschaften, Stärkung der Frauen, wenn sie Gewalt erfahren haben.

Unser evangelisches Profil spiegelt sich in den theologischen Angeboten wider, die sich an alle Bewohnerinnen und Bewohner richten, seien sie evangelisch, katholisch oder Atheisten: Bibel lesen, Gottesdienste in der Einrichtung, Feier des Abendmahlsmahl mit einer einzelnen Bewohnerin oder mit der Wohngruppe, seelsorgerliche Begleitung bei Krankheit und Tod, Gemeindegottesdienste zu Feiertagen wie Reformationstag, Weihnachten und die enge Zusammenarbeit mit den örtlichen Frauenhilfegruppen sind Ausdruck davon.

Frau Spiegelberg, Sie sind seit mehr als 15 Jahren die Einrichtungsleiterin. Was hat sich Ihrer Meinung nach in dieser Zeit gesellschaftlich im Umgang mit Behinderten verändert?

Auf der einen Seite eine Menge, auf der anderen Seite nicht viel. Rechtlich hat sich die Stellung der Menschen mit Behinderungen durch die Änderung des Art. III im Grundgesetz, dem so genannten Benachteiligungsverbot sowie durch Bundes- und Landesgleichstellungsgesetz erheblich verbessert. Die Umsetzung in den Alltag lässt immer noch zu wünschen übrig. Wir müssen weiterhin dafür kämpfen, dass Menschen mit Behinderungen in ihrem Anderssein angenommen und respektiert werden, dass Teilhabe nicht von der Finanzierbarkeit abhängig ist.

Wie hat das Frauenheim Wengern darauf reagiert?

Indem wir unser Hilfeangebot ständig angepasst haben: weg von der beschützenden, aber zum Teil auch einengenden und bevormundenden Betreuung, hin zu von den Betroffenen gewünschten und gewollten Hilfen auf ihrem Weg zu einem selbstbestimmten und selbständigen Leben.

Bei den sich verändernden Lebensbedingungen in Deutschland, den Debatten um Armut und Arbeitslosigkeit - haben Sie in der jetzigen Zeit größere Probleme, Unterstützung und Hilfe für ihre Arbeit zu erhalten?

Wir werden zunehmend damit konfrontiert, dass die Menschen, die uns immer schon geholfen haben, selber oder familiär von Arbeitslosigkeit bedroht sind oder weniger finanzielle Mittel als früher zur Verfügung haben. Wir müssen daher sehr transparent unsere Arbeit, Ausstattung und andere Bedarfe darstellen, um weiterhin finanzielle Unterstützung zu finden. Gleichzeitig freuen wir uns aber über immer mehr Frauen und Männer, die uns mit ihrer Arbeitskraft und ihren Ratschlägen unterstützen.

Die vorgeburtlichen Untersuchungsmöglichkeiten und die dadurch frühzeitige Erkennung von genetisch verändertem Erbgut führen dazu, dass immer weniger Kinder mit geistigen Behinderungen auf die Welt kommen. Was sagen Sie dazu?

Bereits 2002 hat die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland e.V. eine Stellungnahme verabschiedet, die wir in einer mehrtägigen Konferenz in 2003 uns zu eigen gemacht haben: In dem Positionspapier zu den Herausforderungen des bio- und gentechnischem Fortschrittes in der Humanmedizin haben wir in einer intensiven Auseinandersetzung - auch in den Folgejahren - bemängelt, dass der lebendige Prozess der Schwangerschaft mit seinen körperlichen, seelischen und sozialen Anteilen immer mehr zu einem überwachungspflichtigen Produktionsprozess wird. Der medizinische Umgang mit dem sich entwickelnden Kind wird zur Qualitätskontrolle, die den schwangeren Frauen die technische Machbarkeit von gesunden Kindern vortäuscht. Frauen befürchten, für die Geburt eines behinderten Kindes verantwortlich gemacht zu werden und „selbst schuld zu sein“. Es ist besorgniserregend, dass schwangere Frauen gendiagnostische Möglichkeiten im Rahmen der Pränataldiagnostik, etwa zur frühen Feststellung eines Down-Syndroms, zunehmend nicht als Unterstützung erleben. Sie sehen sich vielmehr der Erwartung ausgesetzt, Tests dieser Art selbstverständlich anwenden zu lassen und bei entsprechendem Befund einer Abtreibung zuzustimmen.

„Selbständiges und selbstbestimmtes Leben“ - „fordern und fördern“ - das sind Schlagworte der letzten Jahre in der Gesellschaft und so auch in der Behindertenhilfe. Sind denn alle Behinderten in der Lage, alle sich ihnen bietenden Möglichkeiten zu ergreifen?

Grundsätzlich ja. Die notwendigen und angemessenen Hilfen unterscheiden sich nur nach Art und Intensität. Und natürlich danach, ob sie von der Sozialhilfe oder einem anderen finanziert werden. Zudem bedeutet für jede Person das Führen eines selbstbestimmten selbständigen Lebens etwas anderes: ich kann ein selbstbestimmtes selbständiges Leben in einem Wohnheim führen, ebenso aber auch ein fremdbestimmtes Leben in der Familie oder allein.

Die volle Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist abhängig von der Finanzierbarkeit der notwendigen Hilfen, d.h. abhängig von hohen Steuereinnahmen des Staates.

Zurzeit werden im EN-Kreis im Grundsatz maximal die Kosten von 8 Fachleistungsstunden in der Woche für Personen übernommen, die aus stationären Einrichtungen ausziehen möchten. Die 8 Stunden werden nur befristet finanziert, danach sinken die Fachleistungsstunden innerhalb eines Jahres auf durchschnittlich 1,75 - 2,5 Wochenstunden. Das bedeutet, dass eine ambulante Betreuung sich nicht für jede Person eignet.

Vor allem Sozial- und Gesundheitspolitiker scheinen sich mehrheitlich darauf zu verständigen, dass es für jeden Menschen mit Behinderung besser ist, in keiner stationären Einrichtung untergebracht zu werden. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Dieses Postulat berücksichtigt nicht, dass jeder Mensch unterschiedlich ist. Jeder Mensch hat unterschiedliche Bedürfnisse und Bedarfe. Strukturen vor Ort (Dichte der Hilfeanbieter, Ärzte, Notrufe etc.), aber auch „Wohlfühlen“ müssen eine Rolle spielen. Das stationäre Hilfeangebot wird als ein Angebot unter vielen immer notwendig sein.

Im Frauenheim Wengern arbeiteten viele Jahre Schwestern der Schwesternschaft der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.. Diese Schwesternschaft feiert im gleichen Jahr ihr 100jähriges Bestehen wie sie ihr 90jährige. Welche Spuren haben die Schwestern in Wengern hinterlassen?

Schwestern haben in allen Bereichen des Frauenheims gearbeitet: so z.B. in der Landwirtschaft, Küche, als Hebamme und Krankenschwester. Die Erinnerung an das Frauenheim, die die Nachbarn, die Esborner und Wengeraner haben, ist geprägt durch hart arbeitende Frauen in Tracht; an Schwestern, die nicht nur in der Einrichtung tätig waren, sondern auch den Nachbarn bei der Ernte halfen, bei Geburten und Unglücksfällen. Heute unterstützen uns Schwestern im Ruhestand noch ehrenamtlich. Für viele Schwestern sind wir ein Teil ihres Lebens, ihr Zuhause.

Das Frauenheim Wengern hatte in der nationalsozialistischen Zeit straffällige Frauen, schwangere Mädchen und Prostituierte aufgenommen. Es gibt in der Neuzeit einige Berichte über Heime, die ihre ihnen Anvertraute nach nationalsozialistischer Gesinnung behandelt haben. Wie war dies im Frauenheim Wengern?

Wir waren Kinder der Zeit. Anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. ist die Geschichte während des Nationalsozialismus aufgearbeitet worden. Dabei hat sich herausgestellt, dass 76 Frauen, die im Frauenheim untergebracht waren, zwangssterilisiert wurden. Diese Frauen bitten wir um Entschuldigung.

Beständig In Bewegung - 90 Jahre Frauenheim Wengern. Was haben Sie an Feierlichleiten geplant?

Wir wollen das Jubiläum mit allen Beteiligten feiern: Bewohnern, Angehörige, Freunde, Fachleuten. Um möglichst vielen ein schönes interessantes Fest zu bieten, haben wir folgendes geplant:

22. April 2007: Festgottesdienst in der Dorfkirche in Wengern mit anschließenden Grußworten

26. August 2007: Geburtstagsfeier im Frauenheim

24. Oktober 2007: Fachtagung mit Referaten und Diskussion

90 Jahre Frauenheim Wengern - was würden Sie sich wünschen für die nächsten 20 Jahre?

Für die Menschen wünsche ich eine finanzielle Besserstellung des Staates, sodass die Rechte der Einzelnen nicht an der Möglichkeit der Finanzierbarkeit scheitern. Ich wünsche mir Mitgestaltung, statt Teilhabe.

Für das Frauenheim wünsche ich mir höchstmöglichste Zufriedenheit der Menschen mit Behinderungen mit den Leistungen, die wir anbieten.

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