Mit Prostituierten eine Perspektive entwickeln

(März 2016)

Mit Prostituierten eine Perspektive entwickeln (März 2015)

Foto: Sonja Riedel

In Südwestfalen findet Prostitution viel versteckter statt als in Großstädten. Das wurde Mitte März beim Treffen von Frauenverbänden in Siegen deutlich. Etwa 160 Frauen und ein paar Männer hatten sich getroffen, um über die Lebensperspektive von Frauen in der Prostitution zu diskutieren.

Die Situation sei in Südwestfalen ganz anders als in Großstädten, berichtete zum Beispiel Erika Denker vom Bezirksverband der Siegerländer Frauenhilfen. "In Südwestfalen kennen wir keinen Straßenstrich. Hier findet Prostitution überwiegend in Wohnungen, Clubs, Bars, Wohnwagen und Bordellen statt", erklärte sie.

Viele Frauen seien nicht mobil und würden in abgelegenen Dörfern arbeiten. "Bisher mussten sie, wenn sie eine Beratungsstelle erreichen wollten, nach Dortmund fahren, zur Mitternachtsmission", sagte Denker. Seit knapp eineinhalb Jahren gibt es jetzt die mobile Beratungsstelle Tamar, die die Frauen in ganz Südwestfalen besucht.

Prostituierte fassen Vertrauen

Eine Mitarbeiterin von Tamar berichtete bei der Podiumsdiskussion über ihre Arbeit. Ihre Erfahrung: Auf dem Land findet Prostitution viel versteckter statt als in Großstädten. Wo Prostituierte arbeiten, haben sie deshalb aus Anzeigen in der Zeitung oder Internetforen erfahren. Und dann sind sie einfach unangemeldet hingefahren. Die Beraterinnen haben dann zum Beispiel Bonbons und Flyer mitgebracht. "Wenn die Frauen das gesehen haben, wussten sie meistens, dass wir sie nicht kontrollieren wollen, dann haben sie recht schnell Vertrauen gehabt", sagte Reeh.

„Es gibt viele Frauen, die Hilfe brauchen, sich aber nicht trauen“, sagte sie. Sabine Reeh von Tamar stellte fest, dass die Prostituierten sich in der Bürokratie nicht auskennen, ihnen bei der Jobsuche nicht immer Sachbearbeiter mit Wohlwollen begegnen und eine Unterstützung daher besonders nötig sei. „Unser Interesse ist, dass Frauen selbstbestimmt leben können und eine Perspektive für sich und ihre Kinder haben“, sagte Pfarrerin und Leiterin von Tamar, Birgit Reiche. Sie möchte nicht „über die Menschen sprechen, sondern mit ihnen eine Perspektive entwickeln“.
Im ersten Jahr haben sie so zu 450 Prostituierten in ganz Südwestfalen Kontakt aufgenommen, die in 94 Betrieben arbeiten. "Die Reaktionen der Frauen waren durchweg positiv", sagte Sabine Reeh. Vor allem Prostituierte mit Migrationshintergrund hätten gar nicht gewusst, dass es Beratungsmöglichkeiten für sie gibt.

Wohnungslose wohnen oft im Bordell

Reeh erzählte von einer Prostituierten, der die Beraterinnen auch bei der Wohnungssuche geholfen haben. "Viele Vermieter möchten zum Beispiel Gehaltsabrechnungen sehen, das haben viele Prostituierte nicht", erklärte sie eine der Schwierigkeiten. Danach haben sie sie auch zum Jobcenter begleitet. "Viele Frauen erfahren ganz viel Abwertung bei Ämtern", sagte sie.

Dass schon die Wohnungssuche für Prostituierte schwierig sein kann, erzählte auch Mariana G. "Ich kenne viele Frauen, die haben keine eigene Wohnung, die leben im Puff", sagte sie. „Ich habe aus Neugierde angefangen, in diesem Job zu arbeiten“, erzählte Mariana, Bordell-Betreiberin. Die Finanzierung ihres Kindes und Schwierigkeiten in jungen Jahren hätten zudem dazu geführt. „Aber ich habe das Glück gehabt, nicht gezwungen zu werden.“ Vor zwei Wochen hat sie ihre Arbeit im Massage-Salon in Iserlohn niedergelegt und möchte nach zehn Jahren nun „normal“ im Wellness-Bereich weiterarbeiten. "Ich finde es sehr gut, dass es so etwas wie Tamar gibt, denn viele Frauen in der Prostitution brauchen Hilfe", erklärte sie.

Mit Prostituierten eine Perspektive entwickeln (März 2015)

Foto: Ina Carolin Lisiewicz

Mädchen aus Bulgarien

Heiner Minzel, ehemaliger erster Kriminalhauptkommissar in Dortmund, stellte fest, dass zwei Drittel der Prostituierten einen Migrationshintergrund haben. Bei diesen zweifle er sehr daran, dass sie ihren Beruf freiwillig ausüben würden. Es gäbe 12- bis 13-jährige Prostituierte aus Bulgarien oder Rumänien, „die von der Familie nach Deutschland gebracht werden, um anzuschaffen“. „Wenn man nachts im Dortmunder Norden unterwegs ist, dann sieht man, was da los ist“, sagte er. Die Polizei sei aber nicht gut genug aufgestellt, um genügend beobachten oder eingreifen zu können.
Elisabeth Winkelmeier-Becker, Mitglied des Bundestags, möchte vor allem das neue Prostitutionsgesetz umsetzen. Dem stand Mariana Griesing kritisch gegenüber: „Die politischen Debatten gibt es schon so lange, aber wo ist die Hilfe? Was können betroffene Frauen machen, die über keine Ausbildung verfügen und die deutsche Sprache nicht beherrschen?“ Ihr Wunsch für die Zukunft liegt darin, für ehemalige Prostituierte eine Perspektive zu schaffen.
Auch Birgit Reiche zufolge brauche es weniger ein neues Prostitutionsgesetz, sondern viel mehr Beratung und Aufklärung. „Aber es fehlt an vielen Stellen an Personal, um Prostituierte und Minderjährige zu schützen.“

Mit Prostituierten eine Perspektive entwickeln (März 2015)

Foto: Ina Carolin Lisiewicz

Selbstbestimmung bei der Prostitution

Selbstbestimmung bei der Prostitution - ist diese vorhanden, schrillen die Alarmglocken freilich nicht so laut wie im Falle südosteuropäischer Menschenhändler, die teilweise 13- oder 14-jährige Mädchen auf den Strich schicken, ihnen das Blaue vom Himmel versprechen und sie letztlich aber jahrelang mit verschiedenen Druckmitteln ausbeuten. Doch wo fängt die tatsächliche Selbstbestimmung an, wenn die Tätigkeit des Geldes wegen ausgeführt wird?

Elisabeth Winkelmeier-Becker als Sprecherin der Arbeitsgruppe Recht und Verbraucherschutz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion lobte die Große Koalition, der sie selbst angehört, für das geplante Prostitutionsgesetz und wies noch einmal auf die Dimensionen hin: „400 000 Frauen und Männer gehen der Prostitution in Deutschland nach.“ Und bis zu 1 Mill. Männer nutzten täglich die Dienste dieser Menschen. Sie beschrieb eine Skala, die vom freiwilligen Verkauf des eigenen Körpers bis hin zu furchtbaren erzwungenen „Arbeitsverhältnissen“ reiche. Da werde den jungen Mädchen vorgegaukelt, dass sie zunächst einmal horrende Kosten für Visum, Miete etc. abzustottern hätten, ehe sie den ersten Euro selbst kassieren dürften: „Hier geht es um billigen Sex in allen Varianten.“

Der erfahrene Dortmunder Polizeibeamte a. D., Heiner Minzel, hatte große Zweifel daran, ob das neue Gesetz tatsächlich etwas verbessere. Denn Gesetze, die beispielsweise den erzwungenen Sex mit Minderjährigen unter Strafe stellten, seien ja bereits vorhanden. Allein an der Kontrolle hapere es, pflichtete ihm Winkelmeier-Becker bei. Und da sieht es vor dem Hintergrund der auch durch die Flüchtlingskrise verursachten Mehraufgaben der Polizei aus Sicht Minzels nicht gut aus.

Er skizzierte seine 40-jährige Arbeit in Dortmund. Da sei Feldarbeit nötig: „Sie brauchen Kontakte!“ Man müsse die Werbung der Branche auswerten, die heute freilich oft im Netz stattfinde. Das Credo müsse stets lauten: „Wissen ist Macht.“ Man müsse für seinen Bereich wissen: Wo gibt es Prostitution? Als Alibi-Passus sieht er die geplante Kondompflicht in der Branche, denn: „Wer will das kontrollieren? Das ist ein Zugeständnis an die Querulanten in der Politik.“

Willi Brase (SPD) erinnerte sich an das Jahr 1977, als er das erste Mal mit Prostitution in Kontakt gekommen sei. Im Rahmen seiner Arbeit war er auf einen zehnjährigen Jungen gestoßen, der zur Prostitution gezwungen wurde. Davon ausgehend erinnerte das heimische Bundestagsmitglied an Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gelte nicht nur für Deutsche, sondern für alle Menschen, die hier lebten. Alleine aus diesem Grund dürfe es keine Zwangsprostitution in der Bundesrepublik geben. In diesem Zusammenhang verteidigte Elisabeth Winkelmeier-Becker das neue Gesetz doch noch einmal: „Wir wollen die Frauen erreichen, die unter dem Radar sind. Die teilweise noch nicht einmal wissen, in welcher Stadt sie sich gerade befinden.“

Hintergrund:

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. ist Trägerin der ostwestfälischen Prostituierten- und Ausstiegsberatung THEODORA, der ostwestfälischen Frauenberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel, Nadeschda, und der südwestfälischen Prostituierten- und Ausstiegsberatungsstelle TAMAR.

 

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